Nanoperlen für die Stahlschmiede
Die Kristallstruktur von Metallen kann sich an Liniendefekten ändern, was die Eigenschaften der Materialien beeinflussen dürfte
Stahl gibt es inzwischen seit rund 3000 Jahren und heute sogar in mehreren Tausend Variationen, und trotzdem ist er immer wieder für Überraschungen gut. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Eisenforschung in Düsseldorf haben in einem manganhaltigen Stahl nun eine Entdeckung gemacht, die vermutlich im Guten wie im Schlechten die Eigenschaften des Materials beeinflusst. Sie haben nämlich festgestellt, dass die Legierung an linienförmigen Defekten eine andere Kristallstruktur bildet, als sie typisch ist für das Material. Die einzelnen Kristallkörner, aus denen sich auch jedes Metall zusammensetzt, kann man als Stapel einzelner Atomlagen betrachten. Liniendefekte, genauer gesagt Stufenversetzungen entstehen, wenn eine Schicht unvollständig bleibt, sodass und die darüber- und die darunterliegende Schicht eine Stufe nehmen müssen. Da sich die Länge der Liniendefekte in einem Kubikmeter Stahl aber auf ein Lichtjahr summieren kann, dürfte die Entdeckung große praktische Bedeutung haben. Denn von der Struktur eines Stahls hängt unter anderem ab, wie formbar, wie fest und wie zäh er ist – Eigenschaften, die Materialwissenschaftler immer weiter optimieren wollen.
Versetzungen können Leben retten. Denn die eindimensionalen Defekte in einem Metall spielen eine große Rolle, wenn sich das Material verformt. Etwa dann, wenn ein Autoblech in einem Unfall zerknautscht wird, dabei einen Großteil der Aufprallenergie abfängt und die Insassen hoffentlich vor Verletzungen schützt. Die Versetzungen wirken dabei wie Nanoscharniere, an denen sich ein Metall biegt. Dass sich die Kristallstruktur direkt an dem Liniendefekt von der Struktur darum herum unterscheidet, dürfte daher auch beeinflussen, wie sich ein Metall verformt. Im ungünstigen Fall reißt es eher, als sich zu verformen. „Wie sich die räumlich begrenzten chemischen und strukturellen Zustände in dem Material auf dessen Eigenschaften auswirken, wissen wir noch nicht“, sagt Dierk Raabe, Direktor am Max-Planck-Institut für Eisenforschung und Leiter der Studie, in der die Abweichler in der Mikrostruktur gerade erst zutage getreten sind.
„Über die Zustände sind wir eher zufällig gestolpert“, sagt Dierk Raabe. Er untersuchte mit seinem Team die Mikro- und Nanostruktur eines besonders festen und zähen manganhaltigen Stahls, der mit Nanopartikeln verstärkt ist und etwa im Fahrwerk großer Flugzeuge verbaut wird. Dieses Material analysierten sie mithilfe der Atomsonden-Tomografie. Dabei wird eine Probe Atom für Atom mit kurzen Pulsen einer elektrischen Spannung verdampft. Aus der Flugzeit zu einem Detektor lässt sich ermitteln, zu welchem Element das abgelöste Atom gehört. Aus der Stelle, an der das Atom im Detektor einschlägt, seine Position in der Probe.
Die Forscher fanden im Stahl Ketten manganreicher Nanoperlen
„Dabei ist uns aufgefallen, dass sich die Konzentration des Mangans entlang bestimmter Linien erhöhte, nachdem wir das Material erhitzt hatten“, erklärt Dirk Ponge, der an der Studie maßgeblich beteiligt war. Nur zwei Nanometer sind die feinen Schläuche weit, in denen sich das Mangan sammelt. Und das tut es auch nicht auf ganzer Linie, sondern eher in Form einer Kette manganreicher Nanoperlen.
Um die größere Zahl an Manganatomen in diesen winzigen Arealen unterzubringen, muss sich die Kristallstruktur des Materials ändern. Normalerweise sitzen an den Ecken einer würfelförmigen Elementarzelle, der kleinsten Baueinheit der Struktur Eisenatome, und nur in ihrem Inneren befindet sich ein Manganatom. Die Eisenforscher sprechen von einer kubisch-raumzentrierten oder einer Martensit-Struktur. Die Mangankonzentration in der Nano-Perlenkette entspricht aber einer Anordnung, in der Manganatome auf jeder Fläche der Elementarzelle untergebracht sind; im Fachjargon eine kubisch-flächenzentrierte oder Austenit-Struktur.
Solche Abweichungen von der regulären Kristallstruktur eines Metalls kannten Materialwissenschaftler bislang nur in zweidimensionaler Form, nämlich von den Grenzen der einzelnen Kristallkörner, die einen Werkstoff bilden. Warum aber fanden sich auch im Inneren einzelner Martensit-Kristallkörner filigrane Austenit-Strukturen? „Als wir sahen, dass sich das Mangan in dünnen Schläuchen anreicherte, hatten wir die Idee, es könne sich um räumlich begrenzte chemische und strukturelle Zustände entlang von Liniendefekten handeln“, sagt Dirk Ponge.
Die andere Kristallstruktur am Defekt hilft Energie sparen
Um sich darüber Gewissheit zu verschaffen, durchleuchteten er und seine Kollegen eine Eisen-Mangan-Probe zunächst im Transmissions-Elektronenmikroskop, das Liniendefekte deutlich sichtbar macht. Anschließend kartierten sie mithilfe der Atomsonden-Tomografie wiederum die Verteilung der Atome in der Probe. Und tatsächlich fanden sie auf den übereinandergelegten Bildern beider Methoden, wie sich die manganreichen Nanoperlen genau entlang der Liniendefekte aufreihten.
Dass sich die Atome genau entlang der Versetzungen anders anordnen als im restlichen Kristall, legt auch eine Erklärung für die Beobachtung nahe: „An den Versetzungen ist die Spannung besonders groß“, sagt Dirk Ponge. „Offenbar kann das Material die Spannung abbauen und damit einen energetisch günstigeren Zustand annehmen, indem es dort eine Kristallstruktur bildet, die ansonsten energetisch ungünstiger ist.“ Aufgrund dieser Erkenntnis erweiterten die Düsseldorfer Forscher eine zentrale Formel, mit der Materialwissenschaftler ausrechnen, welche Struktur ein Material unter welchen Bedingungen an solchen Baufehlern im Kristall bevorzugt.
Kann sich ein Damaszener Stahl selbst schmieden?
Damit die Atome unmittelbar an der Versetzung die Struktur, die dort, aber auch nur dort energetisch günstiger ist, annehmen können, mussten die Forscher die Atome mit Hitze erst mobilisieren. „Das bedeutet aber nicht, dass sich die räumlich begrenzten chemischen und strukturellen Zustände nur unter Hitze bilden“, sagt Dierk Raabe. Diese Zustände sind also vermutlich nicht nur in den Zylindern eines Motors, den Schaufeln einer Turbine oder anderen Materialien, die ständig großer Hitze ausgesetzt sind, anzutreffen. „Kleine Atome wie die des Kohlenstoffs sind viel mobiler als die des Mangans“, erklärt Dierk Raabe. „Es ist also damit zu rechnen, dass wir die räumlich begrenzten Zustände auch etwa in kohlenstoff-haltigen Fahrzeugblechen antreffen.“
Wie sich der lokale Strukturwandel auf die Eigenschaften eines Materials auswirkt, wollen die Forscher nun untersuchen. „Vielleicht helfen unsere Erkenntnisse auch bereits bekanntes Verhalten von Metallen zu erklären – die Tatsache etwa, dass Metalle spröde werden, etwa wenn sie korrodieren und Wasserstoff aufnehmen“, sagt Dierk Raabe.
Es muss aber nicht immer schädlich sein, wenn die Kristallstruktur an Liniendefekten aus der Reihe tanzt. „Vielleicht können wir diese räumlich begrenzten Zustände auch gezielt herbeiführen, um einen Nano-Damaststahl zu entwickeln, der sich selbst schmiedet“, so der Max-Planck-Direktor. Damaststahl ist auch als Damaszener Stahl bekannt, weil er über Damaskus nach Europa kam. Darin schmiedeten kundige Handwerker im orientalischen Raum einen harten, aber spröden, und einen zähen, aber weichen Stahl zu einem Verbundmaterial, das hart ist, ohne schnell zu brechen. Solche eigentlich unvereinbaren Eigenschaften könnten sich künftig auf einfache Weise miteinander kombinieren lassen, wenn sich Versetzungen als strukturgebendes Hilfsmittel einspannen ließen. Der Stahlindustrie böten sich dann ganz neue Möglichkeiten, einen Werkstoff noch gezielter für eine spezielle Anwendung zu optimieren.
Autor: Peter Hergersberg (Max-Planck-Gesellschaft)