Reale Materialien aus dem Computer

Physiker am Max-Planck-Institut für Eisenforschung können Eigenschaften von Werkstoffen und opto- und mikroelektronischen Halbleitermaterialien mit bisher unerreichbarer Genauigkeit vorhersagen

17. März 2014

Punktdefekte wie zum Beispiel das Fehlen einzelner Atome bestimmen maßgeblich die Leistungs- und Widerstandsfähigkeit moderner Materialien. Dabei spielt die Anzahl der Defekte eine wichtige Rolle. Selbst geringste Defektkonzentrationen von 1:100.000 können maßgeblich die Widerstandsfähigkeit von mikroelektronischen Halbleitern, wie Prozessoren und Solarzellen, und Strukturmaterialien, wie Stahl, beeinflussen. Hierbei bestehen alle Materialien aus Atomen, die im Falle von sogenannten kristallinen Materialien, in Gittern angeordnet sind[1]. Die einzelnen Atome sitzen jedoch nicht perfekt auf den Gitterplätzen, sondern vibrieren mit extrem hohen Geschwindigkeit um diese Plätze—Wissenschaftler sprechen daher von Gitterschwingungen.

Um Defekte in einem Material zu untersuchen und damit Rückschlüsse auf die Widerstandsfähigkeit zu ziehen, gab es bisher zwei Herangehensweisen. Theoretische Physiker berechneten die Energie der Gitterdefekte, eine Größe, die sehr genau zeigt wie viele Defekte im Material vorhanden sind; ihre Berechnungen funktionierten aber nur am sogenannten absoluten Nullpunkt, das heißt bei ca. -273°C (0 Kelvin). Experimentelle Physiker dahingegen konnten im Gegensatz zu ihren theoretischen Kollegen anhand von Experimenten Defekte ausschließlich bei sehr hohen Temperaturen (327-727°C; 600-1000 Kelvin) messen. Es bestand also ein großes Temperaturintervall ohne jegliche Daten. Genau dieses fehlende Intervall ist aber wichtig bei der Berechnung von Defekten in Materialien, die bei Raumtemperatur angewendet werden.

Physikern in der Abteilung ‚Computergestütztes Materialdesign‘ am Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE) ist nun der Durchbruch in der Computersimulation von Defekten in genau diesem, fehlenden Temperaturintervall gelungen. „Bisherige Berechnungen der Energien von Gitterdefekten konnten die komplexe Wechselwirkung von Gitterschwingungen nicht einbeziehen. Dank methodischer Durchbrüche gelang es uns, die Wechselwirkung der Gitterschwingungen und deren Temperaturabhängigkeit in unsere Berechnungen vollständig mitzunehmen und zu zeigen, dass diese maßgeblich die Anzahl der Defekte im Material beeinflusst“, so Albert Glensk, Doktorand am MPIE. „Alle bisherigen Ergebnisse über Defekte in kristallinen Materialien müssen nun korrigiert werden. Unsere Rechnungen zeigen, dass die bisher verwendeten Defektenergien um bis zu 20% niedriger ausfallen als angenommen. Zum ersten Mal wird nun die Lücke zwischen Theorie und Experiment überbrückt. Alle experimentellen Ergebnisse können nun auch theoretisch beschrieben werden“, so Glensk.

Mit dieser neuen Einsicht können Wissenschaftler nun viel genauer berechnen und vorhersagen, wie viele Defekte im Material vorhanden sind, um dadurch Aussagen über die Widerstandsfähigkeit des Materials zu treffen. Mit anderen Worten: es wird zukünftig besser möglich sein Werkstoffe auf dem Computer zu optimieren und Materialversagen vorauszusehen und dadurch besser in Produktionsabläufe einzuplanen. 

Autorin: Yasmin Ahmed Salem, M.A.



[1] Im Gegensatz zu kristallinen Materialien existieren zum Beispiel auch amorphe Materialien, deren Atome keine geordnete Struktur aufweisen.

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